Heilpädagogik:diagnostiziert-bewertet-abgestempelt
Fürsorgepraxis im Kontext der Heilpädagogik in Salzburg von 1945 bis 1970. Erbbiologische und konstitutionslogische Zuschreibungen gegenüber weiblichen Fürsorgemündeln
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war von Verantwortungsketten einer totalitären und demütigenden Fürsorgepraxis geprägt. (Bezirks-) Jugendämtern oblag es, auf der gesetzlichen Grundlage Fürsorgeerziehung zu verhängen, wenn es scheinbar zu 'körperlichen, seelischen, geistigen oder sittlichen Verwahrlosungserscheinungen' von Kindern und Jugendlichen kam. Anhand der Mündelakten des Salzburger Fürsorgeerziehungssystems nach 1945 können soziale Strukturierungen innerhalb des Fürsorgeerziehungsregimes rekonstruiert werden. Insbesondere in den heilpädagogischen Gutachten der Kinderärztin Ingeborg Judtmann werden geschlechtsspezifische (Fall-) Konstruktionen auf der Grundlage gesellschaftlich-normativer Zuschreibungen sowie erbbiologisch-eugenischer Denkweisen sichtbar.
Vor allem bei Mädchen handelte es sich um eine diffuse Adressierung von 'sexueller und moralisch-sittlicher Verwahrlosung'. Diese Form der Normierung und Normalisierung von Weiblichkeit formierte und strukturierte sich in Abhängigkeit hegemonialer sowie bürgerlicher Idealvorstellungen von 'sittsamer' Weiblichkeit und entsprechenden Familienkonstellationen. Wie sich die Heilpädagogik in Österreich entwickelt hat und welche Legitimationsstrukturen des Eingriffs in die Familie sich in der Aktenführung rekonstruieren lassen, soll im Beitrag aufgezeigt werden.
Die Veranstaltung ist eine Open Lecture des Ilse Arlt Instituts für Soziale Inklusionsforschung.