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"Wollen einen Beitrag zur Diskurskultur leisten"

arlt.dialog #12: Tom Schmid im Gespräch

FH-Professor Tom Schmid
Copyright: FH St. Pölten / Carmen Elbe

Tom Schmid ist Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule St. Pölten. Derzeit leitet er gemeinsam mit Patricia Renner die Ringvorlesung "Sozialstaat aus verschiedener Sicht". 2020 unterrichtet er gemeinsam mit Peter Eigelsreiter im Kurzseminar "Aktuelle Änderungen im Sozialrecht."  Sein neustes Buch (gemeinsam mit Nikolaus Dimmel) beschäftigt sich mit der Reform der Selbstverwaltung im österreichischen Sozialwesen. arlt.dialog sprach mit ihm über Entwicklungen im Sozialsystem.

Worin bestehen die größten Herausforderungen bei der Reform des Sozialstaats in den kommenden Jahren?

Ich sehe die größte Herausforderung darin, wieder zu einem selbstverwalteten Solidarsystem zurück zu finden, das dazu beiträgt, möglichst alle Menschen in unsere (reiche) Gesellschaft zu inkludieren. Diese Aufgabe kann nur gemeinsam bewältigt werden. Daher ist die Selbstverwaltung nötig. Und es kann nur gemeinsam finanziert werden. Daher ist das Umlagesystem notwendig und jeder Versuch, dieses durch kapitalisierte individuelle Risikoversicherungen abzulösen, ist abzuwehren.

Wie bewerten Sie aktuellen politischen Entwicklungen in Österreich?

Leider geht der Weg, den vor allem die türkis-blaue Regierung eingeschlagen hat, in genau die Gegenrichtung. Denn die Zerschlagung der Selbstverwaltung war die notwendige Vorleistung, um ohne organisatorischen Widerstand Leistungen zu privatisieren. Bei der Unfallversicherung hat man es schon versucht, die eigenen Einrichtungen der Krankenkasse(n) und die Rehab-Anstalten stehen als nächstes auf diesem Speisezettel. Danach werden die öffentlichen Leistungen minimiert. Statt der versprochenen "Patientenmilliarde" wird es wahrscheinlich zu einer herben "Fusionsmilliarde", freilich auf Kosten bisheriger Leistungen, kommen. Und die Politik um die Mindestsicherung (heute wieder: Sozialhilfe) zeigt schon seit 2016, dass der Kampf gegen die Armut schon längst abgelöst wurde durch einen Kampf gegen die Armen.

Die ÖVP verfolgt diesen Kurs der De-Institutionalisierung im Sozialwesen schon seit den Neunzigern. Es ist zu hoffen (und nötigenfalls durch öffentliche Aktionen zu erzwingen), dass ihr kein möglicher Koalitionspartner auf diesen Leim geht.

Die FH St. Pölten lädt namhafte Expertinnen und Experten zu Vorträgen im Rahmen der Ringvorlesung "Sozialstaat aus verschiedener Sicht". Die Vorträge sind öffentlich. Worin liegt das Ziel der Vorlesung? Was dürfen sich Teilnehmer*innen erwarten?

Diese Ringvorlesung geht nunmehr in ihr zwölftes Jahr. Sie hat sich zu einem Leuchtturm der Sozialarbeitsausbildung in St. Pölten entwickelt, wie uns bereits bei den Aufnahmegesprächen mit Bewerber*innen zum Studium versichert wird. Heuer organisiere ich sie gemeinsam mit Patricia Renner. Hier werden jedes Wintersemester acht Entscheidungsträger*innen aus Politik und Sozialwesen zu einer jeweils dreistündigen Gastvorlesung eingeladen, um den Studierenden die unterschiedlichen (oft kontroversiellen) Zugänge zu Problemen der Sozialen Sicherheit zu erschließen.

Wir wollen damit einen Beitrag zur Entwicklung einer lebendigen Diskurskultur leisten, die grade in "Zeiten wie diesen" so nötig wie schon lange nicht ist. Außerdem wollen wir den Studierenden durch persönliches Erfahren die Scheu vor Diskussionen und Gesprächen nehmen, die man sonst eher aus dem Fernsehen kennt. Der Spruch "ich hab in der Pause mit dem Sozialminister eine Zigarette geraucht." ist legendär geworden für diese Art des Kontaktaufbaues.

Gemeinsam mit Nikolaus Dimmel veröffentlichten sie ein Buch zur Selbstverwaltung im Sozialsystem. Was macht das Thema so aktuell?

Mit der faktischen Abschaffung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung als Managementprinzip und als lebendige Brücke zwischen Versicherung und Versicherten wird, ohne dass es die Bevölkerung heute bereits in ihrer Tragweite erkennt, eine wesentliche Vorleistung für eine Umwandlung des solidarischen Sozialstaates in einen Vorsorgestaat, in dem sich dann jedeR nach seinen/ihren Möglichkeiten den (gerade leistbaren) Sozialschutz selbst kaufen muss. Das US-amerikanische Modell oder der heftige Sozialabbau in Großbritannien unter konservativer Herrschaft in den Achtzigern bilden die Role-Models in dieser türkisen Privatisierungsstrategie.

Das Buch soll die Bedeutung der Selbstverwaltung in der sozialen Daseinsvorsorge, ihre Geschichte und ihre Verbreitung in Österreich deutlich machen. Wenn in den parlamentarischen Erläuterungen zum Sozialversicherungs-Organisationsgesetz von 2018 mehrmals vom "überbordenden Funktionärewesen", das es zu beseitigen gelte, die Rede ist, erkennt man, wes antidemokratisches Kind diese Reform ist.

Funktionär*innen sind Menschen, die ein System zum Funktionieren bringen, jede Freiwillige Feuerwehr und jeder Elternverein weiß das. Wer diese Funktionär*innen in der Sozialversicherung abschafft, möchte, dass dieses System nicht mehr funktioniert – eine notwendige Vorleistung für die Privatisierung. Denn noch stehen über 80 Prozent der Bevölkerung voll Vertrauen hinter ihrer Sozialversicherung.

Vor welchen Herausforderungen steht die Soziale Arbeit angesichts aktueller Entwicklungen in der Sozialpolitik?

Die größte Herausforderung besteht wohl darin, zu verstehen, was die Motive und die Zusammenhänge der gegenwärtigen Sozialpolitik sind und wer die Gewinner*innen dieser Politik sind, aber ach, wer die VerliererInnen sind. Soziale Arbeit setzt sich vor allem für vulnerable Menschengruppen ein, die sehr rasch von einer Politik des Sozialabbaus betroffen sind.

Soziale Arbeit steht nun vor der Doppelverantwortung, einerseits das System und seine Veränderungen so zu verstehen, dass daraus die jeweils bestmöglichen Empfehlungen und Strategien für die einzelnen Klient*innen abgeleitet werden können, und andererseits das System so zu verstehen, dass dieses Verständnis im eigenen Wirkungskreis weiter gegeben werden kann, um den Boden zu bereiten für eine radikal (also: an die Wurzel gehende) andere Art von Sozialpolitik.

Wer einmal im Fernsehen erlebt hat, wie verachtend und herablassend mit dem Handy spielend der ehemalige Bundeskanzler Kurz das gewählte österreichische Parlament, immerhin seinen unmittelbaren Dienstgeber, wird verstehen, was die eigentlichen Absichten dieser Politik gegenüber demokratischen Strukturen sind.

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